Gegen die Mankurtisierung. Rede zum 8. Mai 2016 auf dem Parkfriedhof Marzahn
In wenigen Wochen werden wir ein Jubiläum begehen müssen: Vor 75 Jahren überfiel Deutschland die Sowjetunion, und mit diesem Überfall wurde der Zweite Weltkrieg zum räuberischsten und mörderischsten Krieg, den die Menschheit jemals erleben musste. Aber nicht darüber möchte ich jetzt reden, ich möchte über die Erinnerung daran reden, über das, was wir „Gedächtnis“ nennen.
Tschingis Aitmatow erzählt in seinem Roman „Der Tag zieht den Jahrhundertweg“ die großartige Legende vom Mankurt. Das ist ein gefangener junger Mann, dem seine Peiniger auf furchtbare Weise das Gedächtnis nahmen und ihn so zum willenlosen Sklaven, zum Mankurt, machen konnten. Naiman-Ana, seine Mutter, findet ihn nach langem Suchen schließlich in der Steppe und fleht ihn immer wieder an: „Erinnere dich!“ Drei Tage lang. „Erinnere dich!“ Am dritten Tag geben die Herren des Mankurt diesem Pfeil und Bogen in die Hand, erzählen ihm, dass diese Frau ihm Böses wolle – und der Mankurt erschießt die eigene Mutter.
Warum erzähle ich das in dieser Stelle?
Vorgestern, zu Christi Himmelfahrt, begegneten mir etwa 20 Mankurts. Sie trugen Kampfanzüge, Stahlhelme oder Infanteriemützen und fuhren mit Wehrmachtskübelwagen und Zündapp-Seitenwagenmaschinen durch Mecklenburg. Sie waren fröhlich-trunken und begrüßten alle Menschen am Straßenrand mit lachenden Gesichtern. Mit dem Hitler-Gruß natürlich. So sehen unsere Mankurts aus.
Dass sich weit und breit kein Polizist blicken ließ, muss ich nicht extra betonen. Und mit Ausnahme des gereckten Armes, mein Gott, die haben doch nur Spaß gemacht, haben sie auch keine Straftat begangen. Freunde alter Technik eben, die wollten doch nur spielen. Und Pfeil und Bogen hatten sie doch nicht dabei… Jedenfalls nicht offen.
An jedem zweiten Sonntag im September findet in Berlin der Gedenktag für die Opfer des Faschismus statt.
Grundlage ist ein Magistratsbeschluss vom Sommer 1945, gefasst unter dem parteilosen Oberbürgermeister Dr. Arthur Werner, der übrigens hier in Biesdorf seine Dienstwohnung hatte – also noch lange vor der Spaltung der Stadt. In diesem Jahr wird der OdF-Tag 11. September sein.
Am 11. September 2016 soll unmittelbar neben dem größten sowjetischen Ehrenmal Berlins, das nebenbei gesagt auch ein Soldatenfriedhof ist, auf dem 7.500 in den Kämpfen um Berlin Gefallene ihre letzte Ruhe fanden, ein Rockfestival mit Massenbesäufnis stattfinden. Mindestens 40.000 Besucher werden erwartet.
Protestiert wegen der Schändung des Andenkens und der Ehre ihrer Gefallenen haben zehn Botschafter ehemaliger Republiken der UdSSR. Ich bin ihnen dankbar dafür – aber ihr Protest hatte bislang keine wirklichen Folgen.
Deutsche Bedenkenträger hingegen zogen durchaus den Kalender hervor und meinten, man solle doch die Dopplung mit dem „Tag des offenen Denkmals“ vermeiden! Der OdF-Tag war ihnen nicht der Rede wert.
Eine Direktkandidatin einer größeren Oppositionspartei – Berlin steht fast im Wahlkampf - sorgt sich um das „Stadtgrün“, will aber keine „Spaßverderberin sein“ –, und die BVV Treptow-Köpenick hat „klare Bedingungen“ formuliert – u.a. soll eine größere Schadenersatzsumme hinterlegt werden. Sicher für die Reparatur des beschädigten „Stadtgrüns“.
Ich habe die Mecklenburger Jung-Nazis eben als Mankurts bezeichnet. Als Mankurt wird man aber nicht geboren, zum Mankurt wird man gemacht. Unter anderem durch das Austreiben und Verschütten von Erinnerung – so wie es im September in Treptow geschehen wird. Es gibt Momente, da schämt man sich für seine Stadt.
Auch eine große Menge Wasser, ein Tsunami, besteht aus vielen kleinen Tropfen, die für sich betrachtet, Tropfen für Tropfen, nicht sehr bedeutend sind. Die Menge macht es.
Ein Haus mit einem maroden Dachstuhl zum Beispiel kann ein solcher Tropfen sein. Eine Dachreparatur ist teuer. Allerdings weiß jeder Hausbesitzer, je länger er eine Reparatur hinausschiebt, desto teurer wird sie. Das Haus, von dem ich hier spreche, ist ein ehemaliges Wohnhaus. Geräumig – aber es ist nicht das Schloß Charlottenburg. Es trägt die Hausnummer Landsberger Allee 563 und gilt als das erste befreite Haus in Berlin. Seit 1985 ist es ein Denkmal an die Befreiung unserer Stadt durch die Rote Armee. Ich halte es für wahrscheinlich, dass hier auf diesem Friedhof Soldaten liegen, die dieses Haus noch gesehen haben und meinten – jetzt sei Hitler kaputt, der Krieg zu Ende und es gehe endlich wieder nach Hause…
Dieses Denkmal hat einen hohen Symbolwert und es ist, gerade weil es sich nicht um eines der üblichen Siegesdenkmale mit Soldat oder Panzer handelt, wichtig für das aktive Gedächtnis der Stadt. Es sagt jedem, der vorbeigeht oder vorbeifährt – egal, ob er das will oder nicht: „Erinnere dich!“ Wie Naiman-Ana: „Erinnere dich!“ Es aus der Hand zu geben, ist hochgradig fahrlässig. Ein schrittweises Schleifen dieses Ortes würde denen in die Hände arbeiten, die bei jeder Gedenkveranstaltung dort auf der anderen Straßenseite stehen und grinsend ihre braunen Kommentare absondern. Die hätten dann gewonnen. Ich sehe ihre Gesichter schon vor mir… Auch die Aufgabe dieses Hauses trüge zur Mankurtisierung unseres Landes bei.
Und ganz am Ende, wenn all die vielen Tropfen sich vereinen, würde Bertolt Brechts Warnung aus der „Kinderhymne“ zur realen Gefahr werden: „Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin“ – sie werden dann erbleichen und gut daran tun, sich alter Bündnisse zu entsinnen…
Genau darum muss diese schleichende Mankurtisierung beendet werden.
Ich will nicht, dass auch nur ein Volk wieder Angst haben muss vor meinem Land, das ich sehr liebe.
Ich will nicht, dass die jungen Männer, die hier liegen, umsonst gestorben sind. Keiner von ihnen wollte Sterben. Und erst recht wollte keiner von ihnen fernab der Heimat in Feindeserde begraben werden. Keiner!
Wir sind es den Angehörigen aller alliierten Armeen schuldig, die für unsere Freiheit starben, wir sind es vor allem den gefallenen Angehörigen der Roten Armee der Sowjetunion schuldig, die hier in Berlin ihre letzte Ruhe fanden, dass das braune Gesocks, das unsere Straßen wieder anfängt unsicher zu machen, endlich gestoppt wird. Und zwar gründlich.
Auch deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns hier alljährlich treffen. Solange in Deutschland auch nur ein einziger Gestriger öffentlich davon träumen darf, die verlorenen Schlachten noch einmal – dann aber siegreich – schlagen zu können, dürfen wir nicht ablassen, wachsam zu sein. Um des Friedens willen, um der Menschlichkeit willen. Ich danke Ihnen allen.
Text: Wolfgang Brauer, Vorsitzender des Heimatverein Marzahn-Hellersdorf e.V., Foto: Sabine Behrens