Gedenken zum 70. Jahrestag der Befreiung

Gedenken zum 70 Jahrestag der Befreiung

Die Bezirksverordnetenversammlung Marzahn-Hellersdorf lud am 9. Mai 2015 zu zwei Gedenkveranstaltungen anlässlich des 70. Jahrestages des Kriegsendes in Europa und der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur. Um 10.00 versammelten sich zahlreiche Bürgerinnen und Bürger am Sowjetischen Ehrenfriedhof und Ehrenmal auf dem Parkfriedhof Marzahn zum feierlichen Gedenken. Kristian Ronneburg begrüßte namens der BVV die Anwesenden, darunter Vertreter der Botschaften der Russischen Föderation, von Belarus und Polens sowie den Erzpriester der Russsisch-Othodoxen Kirche Marzahn-Hellersdorf. Die Gedenkrede hielt der Vorsitzende des Heimatvereins Wolfgang Brauer. Danach fand eine Andacht statt, die der Erzpriester mit gesanglicher Unterstützung von weiblichen Mitgliedern seiner Gemeinde abhielt. Zum Abschluss der bewegenden Veranstaltung wurden von den Anwesenden zahlreiche Kränze und Blumen am Ehrenmal niedergelegt. Auch an der Gedenkveranstaltung mit Kranzniederlegung am sowjetischen Ehrenmal in der Brodauer Straße um 11.30 Uhr nahmen Vertreter der russischen und der belorussischen Botschaft teil. Der stellvertretende Vorsteher der BVV Klaus Mätz begrüßte die Anwesenden zum Gedenken an die bei der Befreiung Berlins gefallenen Angehörigen der Roten Armee. Die Gedenkrede hielt auch hier der Vorsitzende des Heimatvereins Wolfgang Brauer. Danach lasen Anwesende Gedichte und aus Erinnerungen von Zeitzeugen. An beiden Gedenkveranstaltungen nahmen mehrere Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses und Bezirksverordnete aus Marzahn-Hellersdorf sowie seitens des Bezirksamtes die stellvertretende Bürgermeisterin Dagmar Pohle und Bezirksstadträtin Juliane Witt teil.

Gedenkrede

Wir stehen tief in eurer Schuld... Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof Marzahn/Wiesenburger Weg und an der Gedenkstätte Brodauer Straße in Berlin-Kausdorf

Sehr verehrte Vertreter der Russischen Föderation, der Republik Belarus und der Polnischen Republik, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, gestern war der 70. Jahrestag der Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus. Viele europäischen Völker feierten den 70. Jahrestages der Befreiung von der deutschen Besatzung. Und heute begehen die Völker der ehemaligen Sowjetunion den 70. Jahrestag ihres und der anderen Alliierten Mächte  Sieges in einem blutigen Ringen, in dem es im wahrsten Sinne des Wortes um das allerletzte ging – das nackte Überleben ihrer Völker. Ich habe lange überlegt, was ich hier heute sagen soll. Ich möchte Sie fragen: Kennen Sie eigentlich Herms Niel? Nein? Aber Sie kennen sicher seine berühmt-berüchtigste Schöpfung : „Auf der Heide blüht ein Blümelein – Erika!“ Dieses Begleitlied blutigsten Botanisierens hatten Wehrmacht, SS, Polizei- und andere Mordeinheiten ständig auf den Lippen, als sie darangingen, den Generalplan Ost – von dem die meisten Soldaten sicher nichts wussten – in der Sowjetunion umzusetzen. Ich möchte jetzt nicht so sehr über zahlen reden. Die Zahlen, um die sich die Historiker redlich mühen, sind Schall und Rauch. Aber hinter jeder Angabe „1 Million“ stecken 1 Million Menschenleben wie Du und ich, wie wir alle. Eine Million ganz unverwechselbare Menschen, die nachdem die blutige Feuerwalze der Wehrmacht am zunächst am 1. September 1939 die polnischen und dann am 22. Juni 1941 die sowjetische Grenze überrollte nur noch ein einziges Interesse hatten: Sie wollten am Leben bleiben. Einfach nur am Leben bleiben.

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir vom „Tag der Befreiung“ sprechen? Historiker bezeichnen den „Plan Barabarossa“, den Überfallplan auf die Sowjetunion inzwischen als „doppelten Holocaust“. Gemeint war die vollständige Vernichtung der Juden und die Ausrottung aller „slawischen Untermenschen“, wie die Faschisten sich auszudrücken beliebten. Einem Teil der Letzteren war eine gewisse Lebenszeit noch als Arbeitsvieh zugedacht gewesen. Viele davon liegen hier auf diesem Friedhof, knapp hundert Meter von der Stelle entfernt, an der wir jetzt stehen. Im Ergebnis sprechen russische Quellen heute von 37 Millionen sowjetischen Opfern dieses Krieges. Das ist die zehnfache Einwohnerzahl Berlin. Die zehnfache! Deutsche Zeitgeschichtler setzen die Summe etwas niedriger an, sie kommen „nur“ auf die siebenfache Einwohnerzahl unserer Stadt. Aber in einem sind sich alle Statistiker einig: die Mehrzahl der sowjetischen Menschen (und der Polen!), die erschlagen, erschossen, verbrannt wurden, die in den Trümmern ihrer Häuser umkamen oder einfach ganz still verhungerten waren Zivilisten. Allein in Leningrad verhungerten zwischen dem 8.9.1941 und dem 27.1.1944, das waren die Blockade-Monate) 1,1 Millionen Menschen. Absichtsvoll, das war geplanter Mord seitens der Wehrmachtsführung. Man wollte sich nicht mit den Nöten einer besetzten Millionenstadt herumschlagen. Eine von ihnen war Tanja Sawitschewa. Sie werden von ihr gehört haben. Tanja war eine der Hauptbelastungszeugen in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Aber nur postum, ihr Tagebuch wurde als Beweismittel herangezogen. Tanja war zum Zeitpunkt des Überfalls 11 Jahre alt. Sie schrieb ab Dezember 1941 Tagebuch. Es hat nur neun Seiten. Der erste Eintrag stammt vom 28. Dezember. In diesem Tag starb die Schwester Shenja. Von nun an erhielt jedes gestorbene Familienmitglied eine Seite. Die letzten Einträge vom Mai 1942 lauten:

Alle sind gestorben. (Умерли все.) Nur Tanja ist geblieben. (Осталась одна Таня.)

Tanja wurde im August 1942 evakuiert. Sie hatte nicht mehr genügend Kraft zum Leben. Sie starb am 1. Juli 1944. Von den 140 Kindern, die man mit ihr aus der Stadt herausbringen konnte, war sie die einzige, die nicht überlebte. Tanja Sawitschewa wurde 14 Jahre alt.

Es gab Millionen Tanjas. Und jetzt stellen Sie sich bitte vor, der Vater eines solchen Kindes, der Bruder, der Onkel – wer auch immer – überschreitet mit der Waffe in der Hand die Grenzen des Landes, aus dem die Mörder des eigenen Kindes kamen... Oder aber der junge Leutnant, der bei der Befreiung Kiews erfahren musste, dass seine Eltern und die Geschwister in Babyn Jar erschossen und verscharrt worden waren. Im September 1941 wurden dort binnen zweier Tage mehr als 33.000 Menschen umgebracht! Das war kein Vernichtungslager. Das war am Rande der großen und schönen Stadt Kiew. Stellen Sie sich vor, wie dem zumute war, als er endlich hier zwischen Landsberger Allee und Kaulsdorf die Haupthöhle der Mörderbrut erreichte... Stellen Sie sich das bitte vor! Ich weiß, das ist unmöglich, aber versuchen Sie es! Und dann hatte das ZDF die Unverfrorenheit, zur besten Sendezeit eine Dokumentation unter dem Titel „Die Verbrechen der Befreier“ auszustrahlen! Ja, es ging diesmal gegen die Amerikaner, denen man den Nimbus edelsten Heldentumes nehmen wollte. Das angeschlagene Thema ist berechtigt. Die Unverschämtheit ist der Titel. Die Unverschämtheit ist der Sendeplatz drei Tage vor dem Tag der Befreiung.

Ach so, jetzt hätte ich beinahe des Führers liebsten Marschliedkomponisten vergessen. Diesen stillen Star der deutschen Volksmusikparaden. Niel schrieb ein halbes Jahr nach dem Ende des Krieges in einem Brief: „Der Russe ist nicht arrogant, er gönnt dem Menschen das Leben. Denn stelle dir vor, der Russe würde es mit uns auch so machen, wie unsere es in Russland getrieben haben sollen.“ Ja, stellen wir uns vor, „der Russe“ hätte es genauso gemacht... Berlin hätte nicht nur den größten Trümmerberg Deutschlands gehabt (15% allen Trümmerschuttes waren hier aufgetürmt). Berlin hätte auch den größten Leichenberg des Reiches aufweisen können. Niemand, ich sage es mit aller Deutlichkeit, niemand hätte überlebt, hätte die Rote Armee mit gleicher Münze zurückgezahlt. Und die Völker der Welt, die gerade von Berlin aus so gern beschworen werden, die Völker der Welt hätten wohl im Jahre 1945 alles Verständnis dafür gehabt.

Ja, unser Volk wurde vor 70 Jahren befreit. Es wurde gegen seinen Willen befreit. Es wehrte sich erbittert gegen diese Befreiung. Es gab nur wenige Ausnahmen. Die Selbstauslieferung an eine Kultur des Mordens war eine fast bedingungslose. Es wurde von denen von sich selbst befreit, die es ausrotten wollte. Paradoxer ging es noch nie in der Weltgeschichte zu. Daraus wächst, denke ich, eine Verpflichtung für uns Nachgeborene: Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit gegenüber den Völkern der Welt – jetzt gebrauche ich sehr bewusst diese Ernst-Reutersche Sprachschöpfung – jeglichen Versuch des Aufkeimens brauner Gesinnung und braunen Handelns im Keime zu ersticken. Diese Saat wird noch Jahrzehnte fruchtbar sein – und wir sind, fürchte ich gerade dabei, hier wieder einmal zu versagen –wenn wir nicht entschieden energischer dagegen vorgehen, als wir es alle zur Zeit tun. Und wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit zu allen unseren Nachbarn gute und freundschaftliche Beziehungen zu pflegen. Ich betone: zu allen!!! Auch und gerade zu Russland und allen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Auch zur Ukraine. Ob uns derzeitige Regierungen wo auch immer passen oder nicht. Wir haben kein Recht, wir Deutschen zuallerletzt, uns hier als Richter aufzuschwingen.

Wir haben eine Dankesschuld abzutragen, die noch in Generationen nicht erledigt sein wird. Ich danke Euch,  Ihr Sowjetsoldaten – auf diesem Friedhof liegen etwa 500 Rotarmisten bestattet, und ich verneige mich vor jedem einzelnen von Euch. Ich danke jedem einzelnen Soldaten der alliierten Mächte Großbritanniens, Frankreichs Polens und der Vereinigten Staaten von Amerika für seinen Beitrag zur Befreiung meines Volkes, das nicht befreit werden wollte. Keiner von diesen zumeist sehr jungen Soldaten wollte sterben. Und schon gar nicht war es ihr Ziel, in der verhassten deutschen Erde zur letzten Ruhe zu kommen. Habt Dank, wir stehen alle tief in Eurer Schuld!

Wolfgang Brauer 9. Mai 2015